Friedrich Merz verspricht einen „Herbst der Reformen“. Doch die zahlreichen kleinen und großen Konflikte aus den ersten Wochen zeigen, dass seiner Regierung der Willen zum gemeinsamen Erfolg fehlt. Selbstprüfung ist in der Sommerpause angesagt
Die Sommerpause ist mehr als eine willkommene Erholung. Das Jahr ist mindestens halb rum, das ist immer ein guter Moment, einmal kurz innezuhalten und konzeptionell nachzudenken, bevor im September die übliche Hetzerei bis zu den Weihnachtsfeiern wieder losgeht – die Sommerpause als Anlass für eine Zwischenbilanz.
Dieses Ritual ist so unumstößlich, dass es fast schon egal ist, dass die neue Bundesregierung in diesem Jahr noch gar keine sechs Monate regieren konnte. Schließlich ist sie erst seit Anfang Mai im Amt. Für eine echte Zwischenbilanz ist es also noch recht früh. Andererseits hat sie nach der Sommerpause auch nur noch gute weitere drei Monate Zeit, um konkrete Dinge zu beschließen und vielleicht die lang ersehnte Wende zum Besseren einzuleiten – in einem Jahr, das regierungstechnisch also eh nur ein halbes ist, kann man auch nach drei Monaten schon guten Gewissens eine Zwischenbilanz ziehen.
Wo stehen wir also nach drei Monaten mit dieser neuen Bundesregierung?
Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten – und wahrscheinlich ist das auch schon der wichtigste Befund: In manchen Disziplinen wirkt die schwarz-rote Koalition angenehm souverän und routiniert, etwa wenn Kanzler Friedrich Merz Außenpolitik betreibt. Doch dann wieder wirkt sie seltsam neben der Spur, halb in der Regierung und halb noch im Wahlkampfmodus. Im besten Fall weiß sie selbst immer noch nicht so richtig, wohin sie wirklich will. Im schlechteren Fall hat sie – nach all dem Hin und Her um die Stromsteuersenkung und nach der verkorksten Verfassungsrichterwahl – schon wieder die wichtigsten Dinge für den Regierungsalltag verloren: die klare Orientierung; den Willen zum gemeinsamen Erfolg; und das Vertrauen in die Zusammenarbeit.
Das Ampel-Trauma wirkt nach
Wie die Ampelkoalition im vergangenen Herbst auseinander gegangen ist, haben wir noch alle gut im Gedächtnis. Doch was für ein Unterschied waren die ersten drei bis sechs Monate der Ampel im Vergleich zu den ersten drei Monaten dieser Regierung! Für kurze Zeit gab es damals schon den verbreiteten Glauben an das Gelingen dieser damals unbekannten Ampelkoalition, selbst bis in weite Teile der Wirtschaft hinein. Dieser Zuspruch hielt sogar noch an, als die Ampel das Land durch die wirklich schwere Krise des Ukrainekriegs steuern musste.
Gut drei Jahre später ist die Stimmung eine ganz andere: Das Zutrauen in diese Regierung ist in allen Lagern sehr viel schwächer, die Antennen für Konflikte und Bruchlinien sehr viel empfindlicher. Das muss nicht schlecht sein, aber es macht es natürlich umso schwerer, tatsächlich ein Gefühl von Aufbruch und Zuversicht zu erzeugen. Das Trauma der Ampel muss die neue Koalition erst noch überwinden.
Hinzu kommt, dass sich gerade die unionsgeführten Ressorts bis hin zum Kanzleramt eine Nachlässigkeit leisten, die viele so nicht erwartet hätten. Immer wieder fällt dabei ein Name – und es ist nicht der von Jens Spahn, dem Fraktionschef von CDU/CSU (der fällt natürlich auch), sondern der von Thorsten Frei, dem Kanzleramtsminister. Frei, ein enger Vertrauter des Kanzlers, galt vor seinem Wechsel ins Kanzleramt als stiller, effizienter Manager, der unterschiedliche Lager und Positionen gut integrieren kann. Doch seit seinem Wechsel ins Kanzleramt fällt Frei vor allem dadurch auf, dass er in den entscheidenden Momenten fehlt – beim Koalitionsausschuss Anfang Juli etwa, als sich das Bündnis schon nach wenigen Wochen im Streit um die Senkung der Stromsteuer festgefressen hatte.
Oder in den Vorbereitungen für den großen Investitionsgipfel im Kanzleramt Anfang dieser Woche, zu dem Kanzler Merz eigens mehr als 60 hochkarätige nationale und internationale Wirtschaftsgrößen begrüßte. Ein Team von Stern- und Capital-Redakteuren hat die Hintergründe des Treffens in den vergangenen Tagen genau recherchiert – die Geschichte finden Sie hier. Das offizielle Ziel war berechtigt und ehrenwert, doch auch jenseits des vieldiskutierten Männer-Überhangs nagt danach ein großer Zweifel an der Veranstaltung: Warum um alles in der Welt überließ das Kanzleramt die Organisation der Runde einer großen und geschäftstüchtigen PR-Agentur? Um den Preis, dass am Ende etliche Unternehmen, die sich gerne eingebracht hätten und tatsächlich viel für Investitionen und Fortschritt am Standort Deutschland tun, außen vor blieben und vor allem der Eindruck hängenblieb, unter Merz entwickle sich das Land zurück in Helmut Kohls Zeiten.
„Wo war da der Kanzleramtsminister“, fragte diese Woche zerknirscht der Chef eines großen Wirtschaftsverbands bei einem Gespräch, „so was hätte es unter Merkel nicht gegeben, und unter Scholz auch nicht“.
Substanz und Detailarbeit bleiben auf der Strecke
Diese Regierung, und wahrscheinlich gerade Friedrich Merz, denken erkennbar oft als Erstes an die gute Inszenierung. Klar, die braucht jede Regierung. Aber zu oft bleiben dabei bisher Substanz und Detailarbeit auf der Strecke. Ohne die aber wirkt jede Inszenierung am Ende hohl. Ein Gipfel im Kanzleramt mit 61 Managern und großen Investitionsversprechen ersetzt eben noch keine gute Wirtschaftspolitik – erst recht nicht, wenn ein Großteil der Investitionen schon lange bekannt und verplant waren. Ein großes Sondervermögen für Infrastruktur über 500 Milliarden ersetzt nicht die sorgfältige Finanzplanung im laufenden Jahr für die Autobahnsanierungen, wenn am Ende der Autobahnbetreiber alle noch geplanten Ausschreibungen mangels Geld wieder abbläst. Zwar hat man dafür kurz vor knapp wieder eine Lösung gefunden, doch die Verunsicherung bei den Bauunternehmen, die mit den Aufträgen geplant hatten, ist dennoch da. Nicht hohe Steuern und Abgaben oder viel Bürokratie richten unbedingt den größten ökonomischen Schaden an, sondern eine mangelnde Berechenbarkeit der Regierung.
Dies gilt auch für das sogenannte Tariftreuegesetz, dessen Entwurf kaum zufällig schon halb in der Sommerpause diese Woche bekannt wurde: Es sieht vor, dass öffentliche Aufträge ab dem kommenden Jahr nur noch an Unternehmen gehen sollen, die sich nachweisbar in ihren Betrieben auch ohne Tarifbindung an die Standards der einschlägigen Tarifverträge halten. Und um ganz sicher zu gehen, soll es auch für Subfirmen von Auftragnehmern gelten. Dieser Ansatz erinnert stark an das berüchtigte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, wobei die Betonung, die vielen Firmenchefs schon wieder den Angstschweiß auf die Stirn treibt, diesmal auf dem Wörtchen „nachweisbar“ liegt. Denn dafür wird es eben viele Nachweise, Formulare und Kontrollen geben müssen – auch bekannt als Bürokratie, die diese Regierung ja eigentlich zurückbauen will.
Gerade kleinere und mittlere Unternehmen laufen bereits dagegen Sturm – es ist kaum vorstellbar, dass die Union dieses Gesetz einfach so durchwinken wird. Der nächste Krach in der Koalition ist damit schon wieder absehbar. Und ohnehin fragt man sich, wie die Koalition unter diesen Vorzeichen „den Herbst der Reformen“ meistern will, den Kanzler Merz schon wieder vollmundig angekündigt hat.
So wirkt das Bild, das diese Koalition zu Beginn der Sommerpause liefert, doch beängstigend disparat: Während der Kanzler den großen Aufbruch verspricht, gibt es an vielen Stellen berechtigte Zweifel und Kritik. Und das, obwohl doch die meisten Bürger und Wähler dieser Regierung immer noch einen Erfolg wünschen würden. Aber das Zusammenspiel und das Handwerk stimmen in dieser Koalition noch nicht. Neben Erholung ist Selbstprüfung die große Aufgabe für die anstehende Sommerpause.